Jurist über AfD-Gutachten: „Ethnisch-abstammungsmäßiger Volksbegriff“ ist nicht verfassungswidrig

Das Gutachten, mit dem das Bundesamt für Verfassungsschutz die AfD als „gesichert rechtsextremistisch“ einstuft, sollte eigentlich unter Verschluss bleiben. So hatte es jedenfalls das Innenministerium unter Nancy Faeser (SPD) angekündigt. Faesers Nachfolger im Amt, Alexander Dobrindt von der CSU, wollte die Veröffentlichung prüfen lassen. Doch am Dienstag stellte das Magazin Cicero das geheime Dokument komplett ins Netz. Nun kann sich jeder ein Bild von der Arbeit des Nachrichtendienstes und den Positionen zahlreicher Parteimitglieder machen – das 1100-seitige Gutachten ist für alle Bürger einsehbar.
Damit wird auch die Debatte über die mutmaßliche Verfassungsfeindlichkeit der AfD und ein mögliches Parteiverbotsverfahren an Fahrt aufnehmen. Ist die gesamte Partei tatsächlich „rechtsextremistisch“? Dazu befragte die Berliner Zeitung den Verfassungsrechtler Hubertus Gersdorf. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Medienrecht an der Juristenfakultät der Universität Leipzig.
„Der Maßstab für die Einordnung einer politischen Partei als ‚gesichert rechtsextremistisch‘ entspricht letztlich dem Maßstab unseres Grundgesetzes für ein Verbot politischer Parteien durch das Bundesverfassungsgericht“, sagt Gersdorf. Für ein solches Parteiverbot gelten sehr hohe Hürden. Es setze voraus, „dass eine Partei nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgerichtet ist, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden“.

Die freiheitliche demokratische Grundordnung umfasse mehrere zentrale Prinzipien, erklärt Gersdorf. Dazu zählen demnach die Garantie der Menschenwürde und die elementare Rechtsgleichheit. Hinzu kommen das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip, die Kontrolle durch unabhängige Gerichte und das Gewaltmonopol des Staates.
„Für einen Verstoß gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, konkret gegen die Menschenwürde-Garantie, genügt der Vorwurf des ‚ethnisch-abstammungsmäßigen Volksbegriffs‘ nicht“, betont der Verfassungsrechtler. Genau diesen bringt der Verfassungsschutz gegen die AfD allerdings vor, es ist ein zentraler Aspekt des Gutachtens. Nancy Faeser begründete die Hochstufung der Partei weiterhin damit: Die AfD vertrete einen ethnischen Volksbegriff, mit dem ganze Bevölkerungsgruppen diskriminiert und Bürger mit Migrationsgeschichte als Deutsche zweiter Klasse behandelt würden.
Es sei verfassungsrechtlich zulässig, für das Staatsangehörigkeitsrecht „an die Abstammung anzuknüpfen“, sagt Hubertus Gersdorf. Das Abstammungsprinzip, wonach ein Kind unabhängig vom Ort seiner Geburt die Staatsbürgerschaft seiner Eltern – oder zumindest eines Elternteils – erhalte, sei „ein weltweit anerkanntes zulässiges Kriterium für das Staatsangehörigkeitsrecht und galt auch in Deutschland bis zum Jahr 2000“. Erst danach sei auch hier das Geburtsortsprinzip eingeführt worden, nach dem in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern unter bestimmten Voraussetzungen die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben könnten.
„Das Geburtsortprinzip ist aber verfassungsrechtlich nicht vorgeschrieben“, sagt Gersdorf. „Die Ausgestaltung des Staatsangehörigkeitsrechts und damit auch die Wahl zwischen Abstammungs- und Geburtsortprinzip obliegt dem Gesetzgeber, der darüber nach politischen Gesichtspunkten entscheidet.“ Das Grundgesetz kenne keinen verfassungsrechtlichen Volksbegriff. „Wer zum deutschen Volk gehört, bestimmt der Gesetzgeber nach politischen Kriterien.“ Von daher sei es zulässig, eine Rückkehr der Politik zum Abstammungsprinzip im Staatsangehörigkeitsrecht zu fordern. „Eine solche Forderung mag man politisch beurteilen, wie man will. Gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verstößt sie nicht“, betont Gersdorf.

Vorgeworfen wird der AfD unter anderem, sie unterscheide zwischen Deutschen mit und ohne Migrationsgeschichte – also zwischen „Deutschen“ und „Passdeutschen“. Eine solche Differenzierung verstoße tatsächlich gegen die Garantie der Menschenwürde und damit gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, erklärt Gersdorf. „Das gilt im Abstammungsrecht genauso wie in allen anderen Rechtsgebieten. Es gibt nach unserer Verfassung nicht zwei Klassen von Deutschen. Deutsche sind Deutsche, egal wie sie es geworden sind.“ Die Forderung einer „Remigration“ sogenannter Passdeutscher wäre mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht vereinbar.
Allerdings sieht der Verfassungsrechtler in vielen der vom Verfassungsschutz aufgelisteten Zitate „keine unzulässige Unterscheidung zwischen ‚Deutschen erster und zweiter Klasse‘“.
Vielmehr würde die „verfassungsrechtlich zulässige Forderung nach einer Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts aufgestellt“, so Gersdorf. Dann etwa, wenn die – Zitat – „in den vergangenen Jahren explodierten Einbürgerungen“ oder „eine Masse ohne festen Zusammenhalt aus allen Ländern dieser Welt“ angeprangert würden. Auch in der Aussage, dass „reine Passdeutsche“ „leider“ ebenfalls zum deutschen Volk gehörten, zeigt sich laut Gersdorf „die politische Forderung zur Rückkehr zum vormaligen Abstammungsprinzip, was verfassungsrechtlich zulässig ist, also nicht gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verstößt“. Gleiches gelte für die Aussage: „Es gehört mehr dazu, Deutscher zu sein, als einfach nur ’ne Staatsbürgerurkunde in der Hand zu haben.“ Oder auch: „Dieses Staatsvolk hat es nicht verdient, hier mit Zuwanderung vollgestopft zu werden und für unsere eigenen Bürger kein Geld mehr zu haben.“
All das seien Äußerungen, „die ein Zurück zum alten Staatsbürgerschaftsrecht beinhalten, aber keine Einordnung der AfD als gesichert rechtsextremistisch rechtfertigen“, sagt Gersdorf.
Selbst wenn Aussagen einzelner Parteimitglieder rassistisch und verfassungswidrig seien, sei der Vorwurf eines Verstoßes gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung nur dann begründet, „wenn sich in diesen Äußerungen die ‚Grundtendenz‘ der Partei“ zeige. Darüber werden nun Gerichte entscheiden. Die AfD wehrt sich juristisch gegen die Einstufung durch den Verfassungsschutz. Derzeit prüft das Verwaltungsgericht Köln einen Eilantrag der Partei – bis zu einer Entscheidung hat der Nachrichtendienst eine Stillhaltezusage abgegeben und wird die Hochstufung vorerst nicht öffentlich kommunizieren.
Berliner-zeitung